langsam reicht(s)

Gedanken von Manuel

Eine Freundin schenkte mir kürzlich eine Postkarte mit der Aufschrift «langsam reichts», das «s» ist durchgestrichen und eine Schnecke rundet das Bild ab. Beides passt gut in diese Zeit.

«Langsam reichts»: die alten Muster und Glaubenssätze, die ganz persönlichen aber auch die Gesellschaftlichen, dürfen den Fluss runter und ausgewaschen werden.

«Langsam reicht»: Das vorgegebene Tempo an welches wir uns so gewöhnt haben, darf in vielen Fällen gedrosselt werden.

Wie oft übergehen wir uns? Wie oft haben wir das (Bauch-)Gefühl, dass irgend etwas nicht ganz stimmig ist. Und dann? Was machen wir dann? Weiter machen! Kann ja wohl nicht so schlimm sein. Anderen gehts dreckiger, also tu nicht so oder etwas klarer: reiss dich zusammen! Ja, man findet immer welche, denen es schlechter geht.
Wie bei allem, ist es auch hier wichtig eine gute Balance zu finden. Den Fokus auf das Wesentliche und auf das mir Förderliche zu richten. Mit dauerndem wegdrücken der eigenen Gefühle ist es leider nicht mehr getan. Das verstärkt den Druck den wir eh schon «ungefragt und/oder unbewusst» mit uns herum tragen. Das führt, folge dessen, früher oder später zu einen Überdruck bis die Energie naturgemäss irgendwo einen Weg nach draussen findet. Manchmal platzt es unkontrolliert heraus, manchmal schleichend. Oft drückt es sich durch körperliche Symptome oder durch Aggression aus. Das ist ja nix Neues…

Kurz vor Ostern hatte ich einen Unfall. Einen Sturz. Bei Freunden zu Besuch wollte ich nach dem Essen meine Schuhe und Jacke für einen Waldspaziergang aus dem Bus holen.

Es lag etwas in der Luft. Mein innerer Druck, wie oben beschrieben, der sich immer mal wieder meldet. Ein alter bekannter Zustand den ich kenne, aber nur schwer in Worte fassen kann. Bei mir äussert sich das mit dem Gefühl, dass mein Nervenkostüm, mittlerweile gut spürbar, dünner und dünner wird. Ein Zustand von; ich müsste doch, aber ich kann nicht. Ein innerliches reissen von mehreren Seiten. Gerade auch deshalb freute mich auf den Wald. Weil ich aus Erfahrung weiss, dass die Bäume und der Duft des Waldes mein Nervensystem beruhigen und mir Kraft schenken.

Als ich mit der Jacke und den Schuhen in der Hand aus dem hinteren Teil von LeuLeo (so heisst mein Bus) aussteigen wollte, ging es sehr schnell. Der Boden unter meinen Füssen gab nach und es knallte. Im nächsten Moment spürte ich die vom Regen nasse Wiese in meinem Gesicht. Ein stechender Schmerz im Rücken welcher in den Körper ausstrahlt. Der Kopf - hellwach. Mein erster Gedanke: «Das ist jetzt gar nicht gut». Die Zeit steht in dem Moment still. Aufstehen geht nicht. Instinktiv versuche ich meine Finger und meine Füsse zu bewegen. Aufatmen. Es geht. Nur das Atmen geht kaum. Meine Lunge ist wie eingeklemmt. Langsam atmen. Ich weiss nicht wie lange ich auf der Erde lag. Irgendwann konnte ich mich aufrappeln und mich zum Haus schleppen. Auf dem Sofa liegend und von Claudia und dem befreundeten Paar umsorgt, fing mein Körper an den Schock raus zu zittern. Das kenne ich unter anderem von eindrücklichen Bildern aus der Tierwelt. Wie gut, dass das bei uns Menschen auch funktioniert. Als mein Arm dann langsam taub wurde, es sich für mich anfühlte, als würde ich ihn verlieren, war dann doch die Zeit für den Notarzt.

Jetzt, wenige Tage später, wo ich diese Zeilen schreibe, bin ich vor allem dankbar. Dankbar, dass es das Leben gut mit mir meint. Das unsere Schulmedizin in solchen Fällen so schnell und zuverlässig funktioniert. Ein paar Stunden nachdem ich die Schwerkraft getestet hatte, ich mit Steissbein und Rücken auf die scharfe Metallkante knallte, wurden mit Röntgenbilder und Ultraschall innere Verletzungen und Brüche fürs erste ausgeschlossen. Und die Schmerzmittel lassen mich atmen, so dass Komplikationen in der Lunge durch ein zu flaches Atmen nicht zum Thema werden müssen.

Und jetzt? War das einfach ein doofer Unfall den man wegsteckt und danach so schnell wie möglich weiter macht? Es war ja nicht so schlimm.

Ich frage mich: Was genau ist dieser Zustand der da vor dem Sturz war, ich nenne es mal der Einfachheit halber «Druck» welcher uns aus der Mitte holt. Welcher uns unachtsam werden lässt. Ein Zustand der mir in meiner Körperarbeit von vielen Klient*innen, schon in vielen Facetten beschrieben wurde. Was steckt da alles drin.

Welche Bilder, wie etwas zu sein hat, macht uns zu Hamsterradläufer*innen und Wegdrücker*innen? Natürlich ist das bei jedem Menschen individuell und doch kennen sehr sehr viele dieses Gefühl. Und in dem drin haben wir viel Gemeinsames. Individuelles? Kollektives? Wohl beides.
Was ist das, was uns immer mal wieder auf dem sogenannten Schlauch stehen lässt? Und was ist die heutige Normalität - hier bei uns?

Mein Erleben ist, dass das was ich als normal gelernt habe immer abnormaler - und das sogenannte abnormale immer normaler wird.

Ich bin in den letzten Jahren zu einem «Lebenserforscher» geworden. Lange Zeit in meinen jüngeren Jahren hatte ich das Gefühl, ich sei der einzige «Honk» (wie es eine Freundin aus Deutschland sagen würde) auf diesem Planeten. Bis ich eines Tages einem Artikel begegnete der ein Symptom beschrieb welches ich auch kannte aber bis dahin mit niemandem teilte. Dieses Symptom hat sogar einen Namen: Misophonie. Später zeigten Tests unter anderem auch, dass ich mehrere Unverträglichkeiten habe, ein genetisch bedingt schlechter Entgifter bin, dass ich «sogenannt» hochsensibel sei und «neuerdings» habe ich auch ein ADS.
Dieses «faktische» Wissen erlebe ich als zweischneidiges Schwert. Einerseits entlastet es, andererseits fordert es mich noch mehr.

Die Frage was ist normal oder wie abnormal das Normale in unserer Gesellschaft geworden ist, treibt mich gerade um. Gefühle zulassen und sich somit auch verletzlich zeigen ist in unserer Gesellschaft, nach wie vor verbreitet, ein Tabu. Wir haben als Gesellschaft zig Jahre Patriarchat in den Knochen. Wir sind alles verletzte, traumatisierte Wesen die immer noch meinen stark sein, sei der einzige «richtige» Weg. Nicht nur, aber vor allem auch die Männer. Es braucht nicht starke Männer und starke Frauen. Es braucht gesunde Männer und gesunde Frauen und ja, gerne auch Mischformen. Wir sind eh alle auch beides. Und ja, das Wort «gesund» wie auch das Wort «stark» sollten wir, wie so vieles, neu abgleichen und klären.

Was bedeutet es für dich?

Und gerne eine weitere Frage in den Raum: Wie steht es um das Männliche und das Weibliche in dir drin? Wie stehst du zu ihnen und wie stehen sie zueinander? Was sind deine Bilder dazu?

Neues darf entstehen. Neues darf sein. Es geht nicht von heute auf morgen. Wir sind ja auch nicht erst seit gestern da wo wir sind.

Langsam reichts mit dem Alten.

Langsam reicht. Dafür liebevoll und nachhaltig. Jede*r in seinem ureigenen Tempo.


Danke für dein Interesse und für deine Zeit.
Wenn du mit Claudia und/oder mir das Leben weiter erforschen möchtest, dann lade ich dich ein unsere Angebote anzuschauen. Ich freue mich mit Kopf, Herz und Bauch auf deine Resonanz.
https://www.bewegtewege.ch/aktuell.html

Manuel


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Wandtafel in Ottenbach. Inspiriert von einer Postkarte. 13.4.2023 Manuel


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